Die Entwicklung des Schulsystems von der Staatsgründung bis Mitte des 20. Jahrhunderts

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Durch eine Verfassungsänderung im Jahr 1988 wurde die nationale Zuständigkeit für das Bildungswesen aufgehoben. Seit dem 1. Januar 1989 sind die drei Gemeinschaften Belgiens für das Bildungswesen verantwortlich, in deren Regierungen es jeweils einen Unterrichtsminister gibt. Die Übertragung des Unterrichtswesens vom Föderalstaat an die Gemeinschaften hat es ermöglicht, die Eigenheiten der drei Sprach- und Kulturgemeinschaften zu berücksichtigen. In vielen Bereichen sind an die Stelle einer nationalen, einheitlichen Gesetzgebung unterschiedliche gesetzliche Regelungen und Anordnungen getreten. Zum besseren Verständnis von Unterricht und Ausbildung in der DG wird im Folgenden die Entwicklung des belgischen Schulsystems von der Staatsgründung bis heute skizziert.

In der unmittelbaren Phase vor der Staatsgründung des belgischen Königreichs (1830)

wurde unter der holländischen Herrschaft (1814-1830) das Unterrichtswesen, insbesondere die Errichtung von Schulbauten, die Ausbildung der Lehrer und die Erarbeitung von Lehrplänen und pädagogischen Methoden, zunehmend dem Staat und den lokalen Behörden unterstellt. Die 1831 durch die Verfassung garantierte Unabhängigkeit des Unterrichtswesens hatte unerwartete Folgen. Anstatt neue Schulen zu gründen, schlossen viele Gemeinden ihre Schulen, um sich finanziell zu entlasten. Die katholische Kirche hingegen nutzte die finanzielle Unterstützung des Staates und gründete neue Schulen. Trotz der öffentlichen Unterstützung reichten die Finanzen für diese erste Schulstruktur schon bald nicht mehr aus.

Um dieser Situation entgegenzuwirken, verabschiedeten die gesetzgebenden Kammern 1842 das erste Grundlagengesetz über die Organisation des Primarschulwesens. Nach der Verabschiedung dieses Gesetzes war jede Gemeinde dazu verpflichtet, mit finanzieller Unterstützung durch den Staat oder durch die Provinz zumindest eine öffentliche Primarschule aufrechtzuerhalten oder aber eine private Schule unter Beachtung gewisser rechtlicher Verpflichtungen zu genehmigen. In den 2.600 Gemeinden nahmen 1.500 Primarschulen Schüler auf, aber nur für die Hälfte der Schüler war der Unterricht kostenlos. Das erste Grundlagengesetz verpflichtete jede Schule, Unterricht in katholischer Religion zu organisieren.

Im Jahre 1850 wurde das erste Grundlagengesetz für die Organisation des Sekundarschulwesens verabschiedet. Dieses Gesetz stellte die Basis für die Gründung bzw. die Übernahme von zehn Sekundarschulen (Königliche Athenäen) und 50 Mittelschulen durch den Staat dar. Das sogenannte "freie" Netz entwickelte sich parallel zum staatlichen Unterrichtswesen.

1879 wurde unter einer liberalen Regierung das zweite Grundlagengesetz für das Primarschulwesen verabschiedet, das auf folgenden laizistischen Grundsätzen beruhte: Vorrangstellung der öffentlichen Schulen, obligatorischer Moralunterricht und fakultativer Religionsunterricht, Konfessionslosigkeit der öffentlichen Schulen, Unabhängigkeit der Schulen von religiösen Machtstrukturen. Infolge einer heftigen Reaktion der Katholiken gegen die neuen Regelungen begann der erste "Schulkrieg". Private konfessionelle Schulen wurden gegründet. Den Eltern, die ihre Kinder in öffentlichen Schulen einschrieben, drohte durch die katholische Kirche die Exkommunikation.

Im Jahre 1881 ermöglichte das zweite Grundlagengesetz für das Sekundarschulwesen die staatliche Verwaltung von 21 Sekundarschulen, rund 100 Mittelschulen für Jungen und 50 Mittelschulen für Mädchen.

1884 hob die katholische Regierungsmehrheit das Ministerium für Volksbildung auf und verabschiedete das dritte Grundlagengesetz für das Primar- und Sekundarschulwesen.

Es sah vor, dass in jeder Gemeinde entweder eine neutrale öffentliche Schule oder eine Schule des freien Netzes bestehen musste. Die Gemeinden erhielten eine große Autonomie und konnten freie private Bildungseinrichtungen finanziell unterstützen. Ein Gesetz aus dem Jahre 1887 legte die Struktur des Sekundarschulwesens fest.

Das vierte Grundlagengesetz für das Primarschulwesen verallgemeinerte die Bezuschussung für alle genehmigten privaten Bildungseinrichtungen und verpflichtete alle Schüler, am Religionsunterricht teilzunehmen. Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges führte das Gesetz vom 19. Mai 1914 die Schulpflicht für alle Kinder von 6 bis 12 Jahren ein und bestimmte, dass das äußerste Schulpflichtalter erst auf 13 und anschließend auf 14 Jahre erhöht werde. Dieses Gesetz fand allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg Anwendung. Es verlangte u.a., dass alle Mitglieder des Lehrpersonals die belgische Nationalität besaßen und dass sie Inhaber eines von einer belgischen Normalschule oder von einem durch die Regierung zusammengesetzten Ausschuss ausgestellten Diploms sein mussten. Darüber hinaus wurden durch dieses Gesetz alle Schulen, also auch die subventionierten Schulen, frei zugänglich. Es durfte kein Schulgeld mehr verlangt werden. Per Gesetz wurden die Neutralität und die konfessionelle Unabhängigkeit der staatlichen Schulen festgelegt.

Der zweite "Schulkrieg" (1951-1958) brach zwischen Anhängern der öffentlichrechtlichen und der "freien", hauptsächlich katholischen, Bildungsanstalten aus. Den laizistischen Verfechtern des unabhängigen staatlichen Bildungswesens standen die Katholiken gegenüber, die das Recht verlangten, ein eigenes Bildungswesen zu organisieren, und die nötige finanzielle Unterstützung, besonders für das Sekundarschulwesen, forderten.

Am 20. November 1958 kam es durch den Schulpakt zum "Schulfrieden". Es war eine bedeutende Kompromisslösung zwischen den drei großen politischen Parteiströmungen Belgiens, der sozialistischen, der christlich-sozialen und der liberalen Parteifamilie. Der Schulpakt wurde am 29. Mai 1959 zum Gesetz und wird seitdem in allen Stufen angewandt, vom Kindergarten bis zur Hochschule und selbst in der Erwachsenenbildung. Der Schulpakt organisiert die Beziehungen zwischen den verschiedenen Schultypen bzw. Schulnetzen, in denen sich einerseits die Staatsschulen und andererseits die subventionierten Schulen je nach der Natur der Trägerschaft der Schule (öffentlich-rechtliche oder freie Schulen) und nach der konfessionellen oder ideologischen Zusammengehörigkeit der Schulträgerschaften zusammenschließen. Ferner garantiert der Schulpakt auch die freie Schulwahl der Erziehungsberechtigten. In den öffentlich-rechtlichen Schulen muss jedem Schüler die Wahl zwischen einem Religionsunterricht oder einem konfessionell nicht gebundenen Moralunterricht ermöglicht werden. Wer ein Studium erfolgreich abschließen möchte, unterliegt denselben Vorschriften und Bestimmungen in allen Schulnetzen.

Durch die historischen Ereignisse nach dem Ersten Weltkrieg, während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Gebrauch der Sprachen im hiesigen Bildungswesen stark beeinflusst. Nachdem das Gebiet der heutigen Deutschsprachigen Gemeinschaft 1920 an Belgien abgetreten worden war, waren viele deutsche Lehrer ausgewiesen worden oder hatten das Gebiet freiwillig verlassen. Auch wenn Gouverneur Baltia versuchte, den Schulunterricht in deutscher Sprache aufrechtzuerhalten, wurde v.a. in den oberen Klassen und den höheren Schulen Französisch die Unterrichtssprache. Nach der Annexion Eupen-Malmedys durch das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg wurde der Unterricht wieder in deutscher Sprache erteilt. Der Lehrernachwuchs war aufgrund der Einberufung aller jungen Männer knapp geworden, was die Gründung einer Lehrerbildungsanstalt für Lehrerinnen in Eupen zur Folge hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Gebiet deutscher Sprache während mehr als zwei Jahrzehnten der größte Teil des Unterrichts in den Sekundarschulen in französischer Sprache erteilt. Erst durch die Sprachgesetzgebung von 1963 und die folgenden Verfassungsänderungen im Vorfeld der Staatsreform wurde Deutsch offiziell zur dritten Landessprache, zur Amts- und auch Unterrichtssprache in der DG erklärt.

Nach den Sozialbewegungen Ende der 60er Jahre fand auch in Belgien eine Unterrichtsreform in mehreren Phasen statt. Minder begünstigten Jugendlichen sollte der Zugang zu Hochschul- bzw. Universitätsstudien erleichtert werden. Im Grundschulwesen wurden die Zielsetzungen, die pädagogischen Methoden, die Organisation und die Inhalte des Unterrichts reformiert. Das Gesetz vom 19. Juli 1971 führte den so genannten "reformierten Unterricht" in den Sekundarschulen ein. In den beiden ersten Jahren des Sekundarunterrichts wurde die Aufteilung in Studiengänge aufgehoben, um mit der jetztigen Beobachtungsstufe besser auf die Bedürfnisse der einzelnen Schüler eingehen zu können. Das Sekundarschulwesen wurde nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Verlängerung der Schulpflicht im Juni 1983 neu organisiert. Es wurde ein Teilzeitunterricht für Schüler ab 15 Jahren eingerichtet.

Für Kinder, die nicht in der Lage sind, dem Regelunterricht zu folgen, hat Belgien schon relativ früh ein gut strukturiertes Förderschulsystem eingerichtet, für das im Wesentlichen auch heute noch ein Rahmengesetz von 1970 gilt.

Im Mai 2009 steht die Verabschiedung des sogenannten "Förderdekrets" im Parlament der DG an. Das Förderdekret modernisiert die Strukturen des Förderschulsystems in der DG. Es stellt zudem zusätzliche Fördermittel für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf zur Verfügung.